Geburtshilfe und Beckenboden – Diese Risiken erhöhen Funktionsstörungen

Donnerstag, 08.10.2020

Geburtshilfe und Beckenboden – Diese Risiken erhöhen Funktionsstörungen

Prof. Dr. med. Boris Gabriel
ist Chefarzt der Frauenklinik sowie Leiter des gynäkologischen Krebszentrums und Beckenboden-und Kontinenzzentrums des St. Josefs-Hospitals Wiesbaden. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Gynäkologische Onkologie, Urogynäkologie, Mininmalinvasice Chirurgie, Spez. Geburtshilfe & Perinatalmedizin sowie Endometriose.

Prof. Dr. med. Christl Reisenauer
ist Leiterin des Universitäts-Kontinenz- und Beckenbodenzentrum und der Sektion Urogynäkologie der Universitäts-Frauenklinik Tübingen. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der Urogynäkologie und Erkrankungen der Gebärmutter und des Beckenbodens.

Einleitung

Fast 24 % der Frauen nach vaginaler Geburt entwickeln im späteren Leben eine Beckenbodenfunktionsstörung. Hauptursache ist eine sogenannte Avulsion des Musculus levator ani, die auch nach scheinbar unauffälliger Spontangeburt auftreten kann. Solche Levatordefekte treten in bis zu 20 % der Frauen nach vaginaler Geburt auf. Es ist bekannt, dass Frauen mit Levatordefekten im späteren Leben ein schlechteres Outcome nach rekonstruktiver Beckenbodenchirurgie aufweisen, ebenso ein höheres Risiko für einen Rezidiv-Descensus. Levatordefekte korrelieren mit höherem Lebensalter bei der Geburt, einer verlängerter AP (Austreibungsperiode) und haben eine 3-fach höhere Prävalenz nach Forcepsentbindung (Zangengeburt). Dieses Kollektiv profitiert bei später notwendigen Eingriffen am Beckenboden von Gewebeersatz.

Potentielle Faktoren und deren Beeinflussung

Nachdem in den entwickelten Ländern die Entbindung für Mutter und Kind in Bezug auf fetale und maternale Morbidität und Mortalität weitgehend sicher geworden ist, kommen nun bisher weniger beachtete Aspekte über die Auswirkungen von Schwangerschaft und Geburt auf den Beckenboden in den Fokus einer gesellschaftlichen Diskussion. Die Schwangerschaft und insbesondere die vaginal operative Entbindung kann zu einem potentiellen Risikofaktor bei der Entwicklung von Beckenbodenfunktionsstörungen, wie Belastungsharninkontinenz und Deszensus genitalis (Senkung der Gebärmutter und Scheide) werden. Einige Faktoren lassen sich nicht beeinflussen: Genetisch veranlagte Bindegewebsschwäche, Anatomie des Beckens, Anlage der Muskulatur und auch in vielen Fällen das Kindsgewicht (3 % Risikosteigerung pro 100 g Kindsgewicht) sind nicht oder nur wenig beeinflussbar. Rein rechnerisch sind acht bis neun Kaiserschnitte notwendig, um eine spätere Harninkontinenz zu vermeiden.

Andere Faktoren lassen sich durchaus beeinflussen: Adipositas (3 % Risikosteigerung pro BMI unit), Nikotinabusus, maternales Alter bei der ersten Geburt und eine wenig trainierte Beckenbodenmuskulatur gehören dazu. Ebenso ist mittlerweile bekannt, dass eine Zangengeburt gravierendere Folgen für den Beckenboden hat als eine Vakuumextraktion und daher nur besonderen Situationen vorbehalten bleiben sollte.

Gefährliche und protektierende Gebärpositionen

In einer der größten Universitätskliniken-Kohorten wurden fast 49.000 Lebendgeburten zwischen 2007 und 2016 analysiert und Risikofaktoren bezüglich des Auftretens von sogenannten OASIS (Obstetric Anal Sphincter Injuries) evaluiert. Es zeigte sich, dass eine Entbindung auf dem Gebärhocker das Risiko für das Auftreten solcher Verletzungen signifikant um den Faktor 3.2 erhöhte – genau so stark wie eine Forcepsentbindung. Nur der Umstieg Vakuum-Forceps erhöhte das relative Risiko noch stärker auf das fast 5-fache. Seitliche Gebärpositionen und Knie-Ellenbogenlage hingegen wirkten protektiv. Andere Faktoren sind in der Literatur eher nicht mit einem erhöhten Risiko assoziiert, wie z. B. eine Periduralanästhesie (PDA) sub partu.

„Wir wissen im Voraus nicht mit Sicherheit, wer eine Schädigung des Beckenbodens durch die Geburt erleiden wird. Daher sollten wir wie in der Medizin üblich – aus einer Intention-to-treat Perspektive – evidenzbasiert, emotionsfrei und nicht wertend aus „ex ante“ Sicht beraten.“

Prävention und Behandlung

Schwerpunkt der Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und Plastische Beckenbodenrekonstruktion e. V. (AGUB) ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Behandlung, aber auch Prävention von Beckenbodenfunktionsstörungen sowie Behandlung, aber auch Prävention von Beckenbodenfunktionsstörungen unabhängig davon, welche Ursachen zu Grunde liegen.

Leider gibt es bislang keinen nachweisbaren Langzeit-Erfolg von gezieltem Beckenboden- und Blasentraining. Dies zeigte u. a. eine randomisiert-kontrollierte Langzeitstudie mit 12 Jahres-Follow-up-Daten. Ursache könnten unzureichende Bedingungen für das Bindegewebe sein. Hier gibt es mittlerweile verschiedene Ansätze für die Primär- und Sekundärprävention wie z. B. präpartal eingesetzte Hilfsmittel (sog. „Birth Trainer“) oder neuartige Pessare, die den bindegewebigen Stützapparat sowie die Sakrouterinligamenta nach Geburt im Wochenbett entlasten sollen (z. B. Restifem); Langzeitergebnisse fehlen. Prospektive Studie sind zur Beurteilung der Effektivität dieser Devices notwendig.

Aufklärung, Betreuung und Beratung

Aus Sicht der AGUB e. V. gibt es verschiedene Zeitpunkte und Möglichkeiten, Frauen über mögliche Veränderungen am Beckenboden aufzuklären. Im Allgemeinen sollte darüber informiert werden, dass Übergewicht und Nikotinabusus mit negativen Effekten behaftet sind, ganz unabhängig von einer Schwangerschaft und Geburt. Spätestens jedoch in der Schwangerschaft sollte beides thematisiert werden: Die Faktoren, die das Risiko eines makrosomen Kindes erhöhen, steigern auch das Risiko eines Beckenbodenschadens bei einer vaginalen Geburt, insbesondere, wenn auch noch vaginal-operativ (Vakuum oder Forceps) entbunden werden muss.

Die meisten Frauen wünschen sich eine vaginale Entbindung. Zunehmend fragen Schwangere und werdende Elternpaare aber auch nach den Risiken und möglichen Folgeschäden einer vaginalen Geburt. Hier gilt es, diese über die Vorteile der natürlichen Geburt aufzuklären. Es muss aber auch auf die Ängste der Frauen eingegangen werden. Dies verlangt bei der Beratung sehr viel Fingerspitzengefühl. Wir wissen im Voraus nicht mit Sicherheit, wer eine Schädigung des Beckenbodens durch die Geburt erleiden wird. Daher sollten wir wie in der Medizin üblich – aus einer Intention-to-treat Perspektive – evidenzbasiert, emotionsfrei und nicht wertend aus „ex ante“ Sicht beraten.

Individuelle Risikoberechnung für eine Beckenbodenschädigung

Wissenschaftlich gesichert ist eine erhöhte Prävalenz von Harninkontinenz und Descensus genitalis für Frauen mit einer Körpergröße von weniger als 160 cm mit einem Kindsgewicht von mehr als 4.000 g. Hinzu kommen Alter über 35 Jahre und die positive Familienanamnese für Beckenbodenerkrankungen. International wurde durch die Auswertung verschiedener Langzeitstudien ein System der Risikostratifizierung entwickelt, das als UR-CHOICE-Rechner online verfügbar ist (http://riskcalc.org/UR_CHOICE/). Das System berechnet langfristige Prävalenzen von Beckenbodenfunktionsstörungen in Abhängigkeit des Geburtsmodus anhand zahlreicher, individueller Parameter. Mit dem UR-CHOICE-Rechner kann den betroffenen Frauen wertneutral dargestellt werden, wie ihr individuelles Risiko für eine Beckenbodenschädigung durch Schwangerschaft und Geburt objektiv ist. Für den individuellen Fall lässt sich daraus ableiten, ob und wie stark eine Sectio das Risiko reduzieren könnte. Der protektive Effekt einer Sectio ist dabei bei einer Patientin ohne Risikoprofil marginal, bei einer Hochrisikopatientin kann die Sectio aber durchaus zu einer deutlichen Reduktion des Risikos für eine Beckenbodenschädigung führen, das betrifft insbesondere die schwere Harninkontinenz. Wohlgemerkt, die UR-CHOICE-Risikostratifizierung trägt v. a. dazu bei, das große Normalkollektiv darin zu bestärken, natürlich zu gebären, denn er zeigt auch, dass die protektiven Effekte einer elektiven Sectio nur bei erheblichen Risikokonstellationen wirksam werden.

Durch evidenzbasierte Indikationen auf der Basis individueller Risikoprofile können unnötige Kaiserschnitte vermieden und die Gesundheit von Mutter und Kind unterstützt werden. Hierzu gehört auch die Risikoabwägung bei der Betrachtung der Vor- und Nachteile einer vaginalen Geburt im Vergleich zur Sectio. Da die Wahl um den in einer individuellen Situation idealen Geburtsmodus nicht nur die werdende Mutter, sondern auch das Neugeborene betrifft, ist es auch für die AGUB e. V. selbstverständlich, neonatologische Aspekte in eine entsprechende Risikoaufklärung zu integrieren.

Zusammenfassung und Ausblick

Wir wünschen, dass die frauenärztliche Versorgung die genannten Themenkomplexe in eine individualisierte und spezifisch beratende Betreuung von schwangeren Frauen implementiert. Hierzu ist die fachliche Expertise der FrauenärztInnen wesentlich, da wir häufig alle Bereiche unseres Faches überblicken und damit eine individuelle Risikostratifizierung und Beratung gewährleisten können.

Es sei darauf hingewiesen, dass auch die AGUB e. V. die vaginale Geburt als einen natürlichen Vorgang ansieht, in den nur mit Sorgfalt eingegriffen werden sollte. Gleichwohl weist das Kollektiv der Schwangeren, die wir als FrauenärztInnen sehen, häufig nicht nur natürliche, sondern auch erhebliche zusätzliche Risikofaktoren auf. Daher sind wir FrauenärztInnen in der Pflicht, auf gesellschaftliche Veränderungen, wie zum Beispiel ein zunehmendes maternales Alter und erhöhtes Gewicht bei der ersten Geburt und auch damit verbundene weitere Risikoprofile zu reagieren und über Aspekte einer beckenbodenprotektiven Geburtshilfe zu informieren. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist es, weiter an sekundären und tertiären Prophylaxen zu arbeiten und dem Forschungsbedarf auf diesem weiten Feld nachzukommen. Nur gemeinsam mit der Geburtsmedizin, den Hebammen und Wochenbettpflegenden, der Neonatologie, Anästhesie und Physiotherapie kann eine differenzierte Betrachtung dieses komplexen Themas möglich sein.

Die Bereiche des Beckenbodens, der Blasen-, Darm- und Sexualfunktion, spielen lebenslang eine Rolle. Die AGUB e. V. sieht ihre Aufgabe darin, nicht nur therapeutisch, sondern auch präventiv zu agieren und hierbei die gesamte Lebensspanne der Frau im Blick zu haben.

 

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